Ist Krankheit Zufall oder Schicksal? Lange Zeit galt die Antwort der Medizin als eindeutig: Unsere Gene bestimmen, ob wir krank werden oder gesund bleiben. Doch die Wissenschaft der Epigenetik zeigt, dass die Wahrheit viel komplexer ist. Gene allein sind nicht unser Schicksal – entscheidend ist, wie sie gelesen und reguliert werden. Und genau das kann durch Umwelt, Ernährung, Stress oder Lebensstil beeinflusst werden.
Gene als Klavier, Epigenetik als Pianist
Man kann sich Gene wie die Tasten eines Klaviers vorstellen. Sie sind festgelegt – aber die Melodie entsteht erst, wenn jemand spielt. Die Epigenetik ist gewissermaßen der Pianist: Sie entscheidet, welche Gene an- oder abgeschaltet werden. Dabei wirken sogenannte epigenetische Schalter wie Dimmer. Prozesse wie DNA-Methylierung oder der Histon-Code bestimmen, ob ein Gen aktiv ist oder schweigt. So tragen zwar alle rund 300 Zelltypen in unserem Körper die gleiche DNA, nutzen aber unterschiedliche Gene – gesteuert durch epigenetische Muster.
„Im Epigenom ist sogar gespeichert, ob jemand vor 20 Jahren geraucht hat“, erklärt Prof. Dr. Christoph Plass, Leiter der Abteilung Epigenomik am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg.
Von Krebs bis Multiple Sklerose: Gene unter Einfluss
Ein bekanntes Beispiel ist der „Angelina-Jolie-Effekt“: Die Schauspielerin ließ sich vorsorglich Brüste, Eileiter und Eierstöcke entfernen, da sie ein erhöhtes genetisches Krebsrisiko trägt. Doch auch bei solchen Genmutationen ist die Epigenetik entscheidend: Nicht jeder Mensch mit Risikogen erkrankt automatisch.

Forschungen zu Multipler Sklerose (MS) zeigen das eindrücklich. In Zwillingsstudien – etwa von der Neurowissenschaftlerin Lisa Ann Gerdes – erkrankt oft nur einer von zwei genetisch identischen Zwillingen. Unterschiede in Umweltfaktoren und epigenetischer Steuerung spielen dabei eine Rolle. Bekannte Risikofaktoren sind Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), Rauchen und Übergewicht in der Kindheit bei MS.
Die ersten 1000 Tage – entscheidend fürs Leben

Besonders sensibel ist die frühe Lebensphase: Schon die ersten 1000 Tage, von der Zeugung bis zum zweiten Geburtstag, prägen die spätere Gesundheit. Denn der Körper speichert Umwelteinflüsse wie ein Gedächtnis.
Spannend: Sogar die Monate vor der Zeugung zählen. Väter, die in dieser Zeit rauchen oder unter starkem Stress stehen, können epigenetische Spuren in ihren Spermien hinterlassen. Auch Traumata von Eltern oder Großeltern können vererbt werden – eine Erkenntnis, die die Bedeutung von Bindung, Ernährung und seelischer Stabilität in der Familiengeschichte unterstreicht.
Mikrobiom und Psyche: Mehr als Gene
Ein weiteres Forschungsfeld betrifft die Darmgesundheit. Das Mikrobiom, also die Billionen von Bakterien in unserem Verdauungssystem, beeinflusst nicht nur Verdauung und Immunsystem, sondern auch die epigenetische Steuerung von Genen. Eine Dysbiose – also ein Ungleichgewicht der Darmflora – wird inzwischen mit chronischen Entzündungen, Depressionen und Stoffwechselkrankheiten in Verbindung gebracht.
Auch die Psyche spielt hinein: Studien von Prof. Katharina Domschke zeigen, dass sich epigenetische Muster nach nur sechs Wochen Verhaltenstherapie bei Patienten mit Panikstörungen verändern können.
Epigenetik in der Medizin – und die Gefahr des Optimierungswahns
Die Erkenntnisse der Epigenetik sind längst nicht nur Theorie. Epigenetische Medikamente kommen bereits bei Leukämie zum Einsatz, epigenetische Diagnostik ist Teil des klinischen Alltags.
Doch so faszinierend die Möglichkeiten sind: Gesundheit ist ein dynamischer Prozess. Wir sind selten nur „ganz gesund“ oder „ganz krank“. Die Gefahr eines Optimierungswahns liegt nahe: Müssen wir ständig an unserer Lebensweise feilen, um die „richtigen Gene“ zu aktivieren? Experten warnen hier vor übertriebenem Druck.
Eigenverantwortung statt Schicksal
Die gute Nachricht lautet: Epigenetik bedeutet nicht Determinismus, sondern Gestaltungsspielraum. Ernährung, Bewegung, Stressmanagement und soziale Bindungen können Gene positiv beeinflussen – und das in jeder Lebensphase. „Gesundheit ist kein Zufall“, schreibt Wissenschaftsjournalist Peter Spork treffend. „Wie das Leben unsere Gene prägt, liegt zum Teil in unseren Händen.“
Fühlst du dich bestärkt, wenn du erfährst, dass deine Gene kein starres Schicksal sind, sondern sich durch dein Verhalten verändern lassen?

Sandra Strixner
ist eine Genussweltenbummlerin die gerne neue Länder und Kulturen entdeckt. Rezepte auf Pflanzenbasis zu entwickeln lässt ihr Herz höher schlagen. Sie ist ein Green-Networker und beschäftigt sich mit Persönlichkeitsentwicklung, Ernährungslehre und Tierschutz. Als geprüfte Fachberaterin für holistische Gesundheit darf sie Menschen dabei begleiten sich selbst zu heilen.
Quellen
- Christoph Plass, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg, Abteilung Epigenomik
- Lisa Ann Gerdes, Forscherin zu Multipler Sklerose, Zwillingsstudien
- Katharina Domschke, Universitätsklinikum Freiburg, Forschung zu Epigenetik und Verhaltenstherapie
- Peter Spork: Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt. DVA, München 2017.
- National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS): „What is Epigenetics?“ https://www.niehs.nih.gov/health/topics/science/epigenetics
- Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ): „Epigenetik und Krebs“
Titelbild: anirudh-YQYacLW8o2U-unsplash