Ein Artikel von: Bianca Bruckner
Diese Frage wird mir als Zert. Heil- und Wildpflanzenpädagogin öfter gestellt.
„Für meinen Salat brauche ich doch nicht bittere Kräuter, die ich mir auch noch selbst pflücken muss, wenn ich den viel milderen Kopfsalat im Supermarkt kaufen kann. Warum sollte ich bei Alltagsbeschwerden wie Kopfschmerzen wochenlang irgendwelche Tinkturen ziehen lassen, wenn ich mir in der Apotheke bequem Schmerzmittel holen kann?“
Diese und ähnliche Gedanken haben viele Menschen, wenn es um Kräuter geht. Natürlich ist es bequemer, in den Supermarkt oder die Apotheke zu gehen und dort das Nötige einzukaufen. Doch zu welchem Preis? Warum kann es sich lohnen, selbst aktiv zu werden? Sind wir als Gesellschaft zu bequem geworden?
Wenn meine Oma von ihrer Kindheit erzählt, wird klar, wie groß der Unterschied ist. Es gab kaum Auswahl: Brot wurde in einer großen Wanne gebacken und gegessen, bis es schimmlig war – und oft sogar darüber hinaus. Fleisch bedeutete, ein Schwein zu schlachten. Tomatensamen galten als exotisch und teuer. Hatte man einmal welche ergattert, wurden die Samen der Pflanzen sorgfältig für die nächste Saison aufgehoben. Für meine Oma ist es bis heute ein absoluter Luxus, einfach in den Supermarkt gehen zu können. Gleichzeitig weiß sie genau, woher ihr Essen kommt und wie viel Arbeit dahintersteckt.
Für meine Generation hingegen ist das selbstverständlich. Uns fehlt oft die Wertschätzung für die Arbeit, die in unseren Lebensmitteln steckt. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln – und Dankbarkeit – lohnt sich.
Was bringt es also, sich mit Wildpflanzen zu beschäftigen?
Kein Supermarkt und kein Gartengemüse der Welt können die Vielfalt an Nährstoffen bieten, die wir in Wildkräutern finden. Der Waldboden lebt – mit einer ganz anderen Zusammensetzung an Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen, als es unsere ausgelaugten Ackerböden tun.
Studien zeigen, dass unsere heutigen Kulturpflanzen im Vergleich zu früher deutlich weniger Vitamine und Mineralstoffe enthalten (z. B. Vitamin C, Magnesium, Zink, Eisen). Dies liegt an Überzüchtung, Monokulturen und nährstoffarmen Böden.
Wildkräuter hingegen sind reich an sekundären Pflanzenstoffen wie Flavonoiden, Bitterstoffen und Gerbstoffen. Diese wirken antioxidativ, entzündungshemmend und stärken das Immunsystem. (Quelle: Leitzmann & Keller, Vegetarische Ernährung, 2013; WHO Monographs on Medicinal Plants, 2002).

Bild: Ackerschachtelhalm
Bitterstoffe aus Wildpflanzen wie Löwenzahn oder Schafgarbe regen Verdauung und Leberfunktion an, während Mineralstoffe wie Silizium (z. B. in Ackerschachtelhalm) Bindegewebe und Haut stärken.
Die Suche nach Wildpflanzen bringt Achtsamkeit und Naturverbindung
Die Arbeit mit Pflanzen lehrt uns Achtsamkeit. Genaues Hinsehen ist essenziell, denn wer die falsche Pflanze erwischt, riskiert Beschwerden – im Extremfall sogar Vergiftungen. Doch das soll nicht abschrecken. Vielmehr entsteht durch das bewusste Sammeln eine fast meditative Ruhe. Die Natur lehrt uns Entschleunigung, Geduld und Präsenz.
Wer die Mühe auf sich nimmt, Essen, Heilmittel oder Kosmetik selbst herzustellen, wird reich belohnt – nicht nur mit Qualität, die im Supermarkt so nicht zu bekommen ist, sondern auch mit einem Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Allein die Beschäftigung mit Wildpflanzen wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus:
Studien belegen, dass der Aufenthalt in der Natur Stress reduziert, Blutdruck senkt und die Herzfrequenz stabilisiert (Shinrin Yoku – Waldbaden, Universität Chiba, Japan, 2010).
Das Sammeln und Verarbeiten von Kräutern fördert Konzentration, Achtsamkeit und Resilienz.
Wildpflanzen selbst haben nachweislich Wirkungen, etwa Weidenrinde (natürliches Schmerzmittel, Vorläufer des Aspirins), Baldrian (beruhigend) oder Johanniskraut (stimmungsaufhellend).

Bild: Baldrian
Sind wir also zu bequem geworden? War früher alles besser?
Die Antwort ist meiner Meinung nach: sowohl ja als auch nein.
Es ist ein Privileg, jederzeit Produkte aus dem Supermarkt holen zu können – und das möchte wohl niemand missen. Gleichzeitig können wir Wildpflanzen als wertvolle Ergänzung nutzen:
- um unsere Ernährung zu bereichern,
- mehr Nährstoffe zu bekommen,
- Achtsamkeit zu finden,
- uns wieder mit der Natur zu verbinden,
- und etwas mit den eigenen Händen zu schaffen.
Die Währung der Natur ist nicht Geld, sondern Zeit. Und vielleicht ist es die schönste Art, unsere Zeit zu investieren: in die Natur, statt in endlose Stunden auf Instagram.

Bianca Bruckner
Bianca ist zertifizierte Heil- und Wildpflanzenpädagogin. Bei ihren Kursen geht es nicht nur darum, unsere heimischen Kräuter und deren Wirkung und Verarbeitung kennen zu lernen. Sondern auch darum, der Natur und dabei auch sich selbst wieder näher zu kommen und Entschleunigung in der schnelllebigen Zeit zu finden.
Titelbild: bakd-raw-by-karolin-baitinger-P5hO_3MtbPk-unsplash